Alles über Menschen
Der Mensch konnte sich noch genau an den Augenblick erinnern, als er zum ersten Mal entsetzt feststellte, dass seine Grundschullehrerin nicht in der Schule wohnte.
Er war noch ziemlich klein, das haben Menschen am Anfang so an sich. Das ganze war im Edeka, der Mensch bekam gerade eine Scheibe Wurst, als seine Lehrerin, Frau Woll, sich hinter ihm und seiner Mutter in der Schlange einreihte und ein Stück vom Mettigel wollte. Er war völlig empört, dass die Lehrerin plötzlich so tat, als wäre sie auch ein Mensch. Am Ende würde sie behaupten, dass sie gar nicht in der Schule wohnte! Dass sie vielleicht sogar einen Mann hatte! Der Mensch speicherte dieses Erlebnis als kleines, aber etwas störendes Detail ab, und dann wurde der Mensch eben trotzdem erwachsen.
Immer mehr Menschen traf er. Dozenten, Arbeitgeber, Kollegen, die erste große Liebe, Freunde, Orthopäden. Manche brachten ihm Volkswirtschaft bei, andere eine gesunde Haltung, und wieder andere, dass die Liebe allein manchmal nicht ausreicht, egal wie sehr man es sich wünscht. (Das brachte ihm übrigens der Orthopäde bei, nicht die erste große Liebe. Der Mensch hatte einen etwas seltsamen Orthopäden.)
Im Prinzip aber waren sämtliche seiner Mitmenschen Dienstleister und Statisten, die ihm beim Aufbau seines Lebensweges behilflich waren, und die allermeisten vergaß er sofort, nachdem er sie gesehen hatte.
Irgendwann, der Mensch hatte mittlerweile eine eigene Wohnung und eine beachtliche Sneaker-Sammlung, saß er in der Bar mit Freunden. Einer seiner Freunde fragte ihn, ob er sich manchmal sein Leben als Film vorstelle, und der Mensch bejahte. Auch das ist normal, das machen Menschen oft, völlig unabhängig davon, wie wenig spannend das eigene Leben gerade scheint. Makroaufnahmen von sich beim einkaufen, beim Fluchen, weil man sich wieder den kleinen Zeh angestoßen hat, beim googlen, ob dieser seltsame Schmerz im Oberschenkel nicht doch auf eine lebensgefährliche Krankheit hindeutet. Aber wie die meisten anderen, sah auch der Mensch sich immer in der Hauptrolle. Man selbst ist nie eine Nebenrolle, egal wie unbedeutend man sich vorkommen mag. Der Mensch ist des Menschen Mittelpunkt.
Das heißt nicht, dass er deshalb schlecht war. Im Gegenteil. Manchen Statisten drückte er auf dem Heimweg von der Arbeit Kleingeld in die Hände, und der Frau, mit der er zusammen lebte, kaufte er Blumen, und zwar nicht nur am Jahrestag. Manchen Statisten schenkte er ein Lächeln, andere rempelte er versehentlich an, und die Briefe, in denen ein Statist vom Finanzamt ihn regelmäßig belästigte, ignorierte er. Da stand sowieso nur drin, das man eigentlich als Mensch nicht wert sei, halt bis auf die hunderte von Euros, die man dem Finanzamt aus irgendwelchen Gründen noch schuldete. (Die Gründe waren, dass der Mensch ständig vergaß seine Taxiquittungen einzureichen)
Irgendwann verließ ihn die Frau, weil Blumen manchmal eben nicht ausreichen, und weil sie sich außerdem in ihren Fitnesstrainer verliebt hatte. Der brachte ihr zwar keine Blumen mit, aber dafür hatte er sehr trainierte Oberarme, und das ist Verliebten manchmal wichtiger.
Das ist normal im Leben von Menschen, die Rollen wechseln. Manchmal der Orthopäde, manchmal die Liebe, meistens vor allem die Leute, denen man begegnet, jeden Tag. Diese Leute haben meistens keine Namen, oder nur sehr umständliche: „Die, die immer mit ihm an der Bushaltestelle wartet.“, zum Beispiel, oder „der, der immer die Zeitung so dermaßen zerknüllt in den Briefkasten stopft“ oder „die, die immer so wahnsinnig lange braucht, um die Milch aufzuschäumen“, wenn der Mensch es morgens eilig hat.
Der Mensch findet es schwer vorstellbar, dass all diese Menschen genauso Leben haben, in denen er nur eine Nebenrolle spielt. Vielleicht ist er „der, der seit kurzem so mürrisch schaut“ oder „der, der früher immer hier Blumen gekauft hat“, und meistens wahrscheinlich einfach nur irgendeiner, so wie die meisten, so wie wir meisten.
Heute hat der Mensch einen Termin bei seiner Zahnärztin. Der Mann ist seit vielen Jahren bei der gleichen Zahnärztin, wie die meisten modernen Menschen hielten die Beziehungen zu seiner Zahnärztin und seinem Friseur deutlich länger als seine Partnerschaften. Der Mensch weiß alles, was es über seine Zahnärztin zu sagen gibt: Sie trägt gerne weiß, nämlich irgendwelche Kittel, meistens trägt sie Gesundheitsschlappen, ihr langes Haar ist streng in einen Dutt gesteckt, was der Mensch sehr schätzt, er mag nämlich keine Haare von Zahnärztinnen im Mund. (Ich habe nie gesagt, dass der Mensch besonders interessant war, was soll man sagen, er war halt ein Mensch).
Eigentlich war seine Zahnärztin höchst professionell, ihr Treffen folgte immer der gleichen Choreographie. „Guten Tag, wie geht es uns denn“, sagte sie zur Begrüßung, und dann sagte er „Guten Tag, alles gut, wie immer vor allem zur Kontrolle“, und dann nickte sie und erzählte etwas von einer Füllung die man korrigieren müsse, oder von einer Zahnreinigung, die sie dringend empfehle, und die der Mann nie machte, weil seine Krankenkasse das nicht übernahm.
Heute aber stimmte alles nicht. Der Mensch war schlecht gelaunt, weil heute doch eigentlich Jahrestag mit seiner Frau sein sollte, und vergaß, die Zahnärztin zu begrüßen. Die Zahnärztin ihrerseits hatte ihren Dutt erstaunlich unordentlich gebunden, ständig kämpften sich einzelne Strähnen heraus und kitzelten ihn unangenehm im Gesicht. Der Zahn spielte auch nicht mit, und tat trotz der Betäubung weh, die Zahnärztin schaute immer verzweifelter, der Mensch immer schmerzverzehrter.
Und plötzlich dachte er sich, was wäre, wenn sie beide einfach aufgeben würde. Die Füllung halb drinnen, einfach die Instrumente weglegen, den Dutt lösen, dem Druck nachgeben, was wäre, wenn seine Zahnärztin ihn einfach mal fragen würde, warum er heute so unwirsch war, was wäre, wenn er sie statt einer Antwort in den Arm nehmen würde. Was wäre, wenn er sie nach ihrem Tag fragen würde, und vielleicht sogar nach ihrem Mann, wenn sie sowas hätte, oder einen Hund.
Dabei wusste der Mensch natürlich genau, was dann passieren würde. Die Zahnärztin wäre nicht mehr seine Zahnärztin. Sie wäre perplex, vielleicht sogar tröstend, in jedem Fall aber würde sie dann plötzlich keine Zahnärztin mehr sein, sondern jemand, der ihm plötzlich näher stand, ganz ohne Rolle, jemand der sich vielleicht morgens die Zähne putzte und seine Krankheiten googelte und Kaffee verschüttete, wie er. Sie wäre plötzlich ein Mensch, wie er.
Das alles überlegte sich der Mensch. Und sagte lieber nichts.
Das hier ist Otto Schily. Ein Beispiel für einen Menschen, der nichts mit diesem Text zu tun hat. |