Dieser Artikel hätte vor zwei Jahren erscheinen müssen

Ein längst überfälliger Text über meinen Hang zum Prokrastinieren – und darüber, wie mich Aufschieben und Verdrängen bis in die Psychiatrie gebracht haben. 

In ganzer Länge erschienen für die ZEIT Ausgabe 11/2025 und online hier

Wer auch immer gesagt hat, Dinge auf die lange Bank zu schieben und immer wieder zu prokrastinieren, bringe einen nicht weit, hat nicht recht gehabt:
Meine Gabe zur Verdrängung, zu anderweitiger Beschäftigung und meine Angst vor dem leeren Blatt haben mich immerhin 600 Kilometer weit gebracht: von meiner Wohnung in Berlin-Mitte bis in die Psychiatrie im pittoresken Wasserburg am Inn in Oberbayern.

Hier bin ich gelandet, weil ich nicht nur berufliche Deadlines verpasst habe, sondern irgendwann mein ganzes Leben auf morgen, morgen verschoben habe.

Meine Mitbewohnerin schläft. Wir haben Glück, das Eckzimmer im ersten Stock verfügt über drei Fenster. Die PSO1, also die psychosomatische Station 1, ist ein Backsteingebäude mit zwei Stockwerken, das Interieur ist irgendwo zwischen Jugendherberge, Krankenhaus und Altbaucharme hängen geblieben.

Seit zwei Wochen bin ich hier. Ich habe nicht nur das Kleine (endlich diesen Artikel zu Ende schreiben), sondern auch das Große (meine mentale Gesundheit ernst zu nehmen) auf die lange Bank geschoben.

Dabei ist Prokrastination sogar Symptom dessen, warum ich hier bin. ADHS kommt selten allein, sondern mit seinen getreuen Komorbiditäten-Knappen: Depression, Schlaf- und Angststörungen. Letztere sind mitunter der Grund, warum ich diesen Artikel heute schreibe und nicht etwa vor 22 Monaten, wie eigentlich mit der Redaktion vereinbart.

Dieser Text hätte vor knapp zwei Jahren erscheinen sollen. Zeit genug hatte ich, aber das ist das Problem mit genug Zeit: Man hat sie auch noch am nächsten Tag. Und dann kommt das Leben dazwischen, der beste Freund im Krankenhaus, der Bruder wird Vater, und die besten Saugroboter googeln sich nicht von alleine.

 

Ich schiebe auf, also bin ich 

Eigentlich war es fast eine Beruhigung, ein ungeschriebener Text ist besser als alles, was man zu Papier bringt. Ein nur geplantes Unterfangen kann genial werden, die Realität ist ein Spielverderber, weshalb sich also mit ihr befassen, bevor es wirklich nötig ist? Realität – Verderberin jedes traumtänzerischen Perfektionismus. 
So vergingen Wochen, mauserten sich, unauffällig wie der verstaubte Kaktus auf dem Fensterbrett, unbemerkt zu Monaten.

Es war schon komisch: Jedes Mal, wenn ich ein Zeitfenster frei hatte und die Muse, nun ja, mich vielleicht nicht packte, aber auf eine Stippvisite hereinschneite, bemerkte ich, wie elendig verkalkt mein Wasserkocher auf einmal war. 
Und war der erst entkalkt, musste die Sodastream-Kartusche ausgetauscht werden oder ein Buch gelesen oder eine Mail beantwortet werden. Und dann google ich auf einmal, ob man sich Teppichreinigungsgeräte umsonst bei dm ausleihen kann, anstatt kluge Worte über mein Kryptonit, das Prokrastinieren, zu verfassen.


Aus "Um Punkt zehn fange ich an" wurde "Okay, aber spätestens um 14 Uhr", aus "bis übernächste Woche" wurden Monate. Hier sind wir nun, beinah zwei Jahre später.

Man könnte behaupten, ich habe sehr, sehr intensiv recherchiert. Ein Jochen auf Facebook würde dazu vielleicht sagen: Was für ein verwöhntes Mädel, die wählt sicher die Linke und hat von Arbeit generell keine Ahnung, früher gab's so was nicht.

Wichtig ist aber nicht, was ein Jochen denkt, sondern sind die Fakten und Leidensgeschichten, die hinter der scheinbar harmlosen "Aufschieberitis" stecken: Prokrastination ist weitverbreitet und kann erhebliche negative Konsequenzen haben. Eine Studie des Sinus-Instituts ergab, dass 82 Prozent der Deutschen bereits finanzielle, berufliche oder gesundheitliche Nachteile durch das Aufschieben wichtiger Aufgaben erlitten haben.


Besonders betroffen sind junge Menschen: In einer repräsentativen Erhebung der Universität Mainz mit 2.527 Personen im Alter von 14 bis 95 Jahren zeigte sich, dass Schüler und Studierende häufiger prokrastinieren als ihre berufstätigen Altersgenossen. Dieses Verhalten geht oft mit Stress, Depressionen, Angst, Einsamkeit und verringerter Lebenszufriedenheit einher.

Übrigens: Danke, ChatGPT, fürs Helfen beim Heraussuchen der Fakten, ohne dich wäre es nicht gegangen.

Diese Zahlen jedenfalls verdeutlichen, dass Prokrastination nicht nur ein individuelles Problem ist, keine kauzige Macke, sondern auch auf gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Ebene Auswirkungen hat. Und die allgemeine Verfügbarkeit von künstlicher Intelligenz kann das Problem verschlimmern (behauptet zumindest ChatGPT, nachdem ich die KI nach den Zusammenhängen von Prokrastination und künstlicher Intelligenz befragt habe).

Ich sitze am Schreibtisch meines Zweibettzimmers, draußen fällt ein unruhiger Schneeregen. 
Ab 17.30 Uhr gibt es hier Abendbrot, unten im Gemeinschaftsraum. Zum ersten Mal ziehe ich Bilanz dessen, was das ADHS und der Perfektionismus aus mir gemacht haben: eine Patientin. 
Eine, die Angst hatte vor diesen Zeilen, seit beinah zwei Jahren schon, die sich durch die Vermeidung und Ablenkung so weit von sich selbst entfernt hatte, dass sie ihr eigentliches Ich hier wiederfinden muss, in einer Klinik, an einem Schreibtisch vor einem Fenster, von dem aus man auf die Forensik blickt.

...Und den Rest kann man hier nachlesen :) 

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