Alles auf Sonntag

Sonntage können jeden Tag sein. Und sie sind nur dann Monster, wenn man sie lässt. Ein Trost-Text für Unglückliche.

Heute fällt der Sonntag zufällig auf einen Sonntag. Ich bin Autorin, da bedeuten Wochentage per se
nicht viel, nicht der Kalender, sondern die Deadline sagt, wann Wochenende ist. Sonntags, das gilt für
tatsächliche und empfundene, hat man viel Zeit.
Man kann zum Beispiel mit den Kindern in den Park gehen. Oder keine Kinder haben und nicht in den
Park gehen, und momentan tu ich noch letzteres. 
Sonntag also. Aufwachen? Irgendwann. Und dann? Pfannkuchen-Frühstück? Brunchen mit den besten
Freunden? Eine Runde laufen gehen? Nichts da. Sonntag heißt: liegenbleiben. 
Das große Missverständnis am Liegenbleiben ist, dass es sich gut anfühlen muss. Verdient irgendwie.
Bis zehn, und dann aber froh und auf in den Tag, zum Flohmarkt, zu Freunden, in den Park. Ganz falsch.
Sonntag ist, da haben die Popsängerinnen dieser Welt schon Recht, kein schöner Tag. Ich halte es
mit Billie Holiday, “Gloomy Sunday” singt sie, trüber Sonntag. 
Der Sonntag wirft einen auf sich selbst zurück. Er ist das Fazit der Woche, des Lebens davor.
Ein an die Wand starren, ein Tag wie die Abende, an denen man im Bett liegt und überlegt, was alles
falsch gelaufen ist. Und das ganze 24 Stunden lang.

Der Sonntag ist nicht schön. Oder für mich: Der Sonntag hat als einziger Tag die Berechtigung, nicht
schön zu sein. Jedes gute Gefühl, Freude, Liebe, Sex, wird in Zeiten des Spätkapitalismus pausenlos
als erstrebenswert beworben. Dabei ist der Mensch erst dann Mensch, wenn er nicht nur in einem
dauerhaften Glückszustand Richtung Endlichkeit segelt, sondern eben auch wütend, traurig, verzweifelt,
hoffnungslos ist. Wir sind eben keine gute gelaunten Avatare, sondern ein unordentlicher
Muskel-Fett-Verzweiflungs Mix, Molekularmüll, der etwas verloren in diesem unserem Universum vor
sich hin existiert, und manchmal vergisst, warum eigentlich.
Und das merkt man nicht, wenn man sich, wieder mal verspätet, gehetzt für die Arbeit fertig macht.
Man merkt es nicht in der Uni, man bemerkt es nicht an der Supermarktkasse, man spürt es höchstens
dumpf am Feierabend, man weiß es: Am Sonntag. 

Der Sonntag ist für mich nicht der Tag der Ruhe, es ist der Tag, der einen dazu zwingt, die Ruhe zu
ertragen. Und das muss sein. Muss, nicht weil dieser Tag einen dazu zwingt, sondern weil es wichtig ist,
eben auch diese Grenzen, die Langeweile auszuhalten. Und erst der Sonntag die undankbare Rolle hat,
einen daran zu erinnern. Obwohl man frei hat, ist der Sonntag nicht ein verfeierter Hallodri wie der
Samstag, sondern primär eine Erinnerung an den Montag und damit: An das Leben, das ganz und gar
indiskutabel vor einem liegt. 

Ich mag den Sonntag, weil er immer etwas unbeholfen nackt vor einem steht wie ein Mensch, mit dem
man zum ersten Mal schläft. In seiner ganzen Ehrlichkeit und Verletzlichkeit präsentiert sich der
Sonntag als eine Leinwand, die man mit seiner sehr subjektiven Wahrheit bemalen muss. 

Also: Erstmal aufwachen. Auf diese Wand schauen, die man schon viel zu oft gesehen hat.
Das Bücherregal, die Poster an der Wand, die man längst mal rahmen wollte, eine Erinnerung an vieles,
was man schon längst hätte erledigen wollen, der Sonntag, ein taggewordenes Futur Zwei: Ich hätte
die Bilder gerahmt haben sollen, ich hätte mein Leben gelebt haben müssen. Sonntag. Noch einmal
umdrehen. Vielleicht sieht beim nächsten Aufwachen alles schon anders aus. Einschlafen. 

Eine Stunde und 22 Minuten später: Ein wirrer Traum. Irgendwas mit gescheiterter Physik Abiprüfung,
viel Angstschweiß und der Gewissheit, das Aufwachen gar nichts bringt. Oder, noch schlimmer,
ein guter Traum, ein richtig guter, einer von denen, bei denen man traurig wird, sobald man erwacht,
weil das “echte”, das wache, wahre (?)  Leben, dieser Illusion nie stand halten wird.

Immer noch ist der Sonntag jung, immer noch ist es nicht mal Mittag. Ein müdes Umdrehen, die Decke
noch warm, ein halbes Greifen nach dem Smartphone. Was ist passiert seit gestern? Mit einem selbst:
vieles. In der Welt: fast nix. Nie viel, es ist ja Sonntag, selbst die Nachrichtendienste sind jetzt langsamer,
Spiegel Online, FAZ, bild.de, die meisten Artikel kennt man schon von gestern. Zwei Nachrichten
bei whatsapp, die Schwester erinnert an den Geburtstag der Großmutter, ein Vater aus der Klasse des
Sohnes fragt nach den Mathehausaufgaben für Montag. So unspektakulär, so wenig glamourös,
so ehrlich, so Sonntag. Ich mag den Sonntag. Diesen öden, konservativen Realitycheck, der Sonntag,
diese pedantische Vaterfigur, hast du das Öl im Auto gecheckt, deine Umsatzsteuer überwiesen,
darüber nachgedacht, ob dich dieses Leben, wie du es führst, wirklich erfüllt?

Und natürlich: Nein, hat man nicht. Und mehr als eine To Do Liste schafft der Sonntag auch nicht.
Man erledigt wenig an diesem Tag, man weiß nur, was unerledigt ist. Das ist nicht schön, aber sinnvoll,
und emotional wirksamer als jede Erinnerungsfunktion des Handys.

12:18
Aufstehen, denn das muss man ja als Mensch immer irgendwann. Ein unbeholfenes Tapsen ins Bad,
man hat ja Zeit heute, die Routine von Klo, schnell-Zähneputzen, Gesichtscreme ist nicht mehr gültig,
denn auch das ist der Sonntag: Ein ziemlich langweiliger Anarcho. Man könnte alles machen! Baden!
Peeling! Lehramt studieren! Kompostieren! Netflix schauen. Nix.

15:05
Goldene Regel des Sonntags: Wenn es schon fünf nach ist, beschließt man dem Tag ab genau der
nächsten vollen Stunde zu begegnen. Also vier Uhr, also noch 55 Minuten für - ja für was eigentlich?
Irgendwas anschauen. Irgendwie bei einem youtube Video mit dem Titel “Der Mann, der eine Pizza
geheiratet hat” landen. Schuldgefühle. 15:32, eine knappe halbe Stunde darf man noch willenloser
Vollidiot sein, dann aber wirklich, dann das Leben.

16:00
Jetzt aber. Man hat schließlich frei, und die Freunde auch, und es ist noch nicht zu spät, diesem Tag
einen Hauch von Sinnhaftigkeit zu verleihen. Wenn schon nicht arbeiten, da ist der Katholizismus in
einem noch laut, dann wenigstens Freude haben, denn das darf man am Sonntag, hat Gott gesagt,
und dem widerspricht man vielleicht an allen anderen Tagen, aber nicht, wenn er Faulsein legitimiert.
Kurz mal Pause, bevor das spätkapitalistische Rad von vorne beginne, nur unterbrochen von dem
tradierten Glauben an die Folklore eines nicht existierenden Gottes, der wohl irgendwann und nach
sechs Tagen Arbeit mal “Stop” gerufen haben muss, weil selbst Götter mal eine Pause brauchen,
und das ist vielleicht das einzig sympathische an ihnen. Und das einzig glaubhafte an der Bibel am Ende:
Das Erschöpft sein.

Ein anstrengender Gedanke, und schon ist es 16:06, und man verschiebt seinen Aktionismus auf die
nächste volle Stunde. 17 Uhr, das klingt vernünftig, das klingt nach Kaffee - Date, nach gemeinsam
“ausklingen lassen”, ein Euphemismus für im Einverständnis mit anderen kurz kaputt sein,
Weißweinschorle im Park, legale Drogen, Freundschaft, Familie, egal, endlich ein Grund, sich aus dem
Bett zu quälen. 

17:00

Man ist tatsächlich irgendwo oder zumindest auf dem Weg dahin. Auf dem Wertstoffhof. Im Cafe.
Auf dem Weg in den Park. Warten auf die U2. Warten auf dieses ganze unordentliche, versprochener
weise doch so schönes Leben. 
Und zum ersten Mal entschädigt der verlorene Tag einen. Egal, ob man seinen Papiermüll wegbringt
und sich kurz als okayer Mensch fühlt, oder weil man das Patenkind trifft, dessen Lachen alles
wiedergutmacht: Gute Sonntage machen wett, was sie davor als Tribut gefordert haben. Und hier bin ich,
ein Weißwein in der Hand, vor mir eine meiner besten Freundinnen, die unfassbar komisch von ihrem
beruflichen Totalversagen erzählt. Und vielleicht gerade weil der Tag davor so aussichtslos aussah,
vielleicht gerade weil man die Perspektive nicht mal geahnt hat, leuchtet dieser Moment im Kontrast
zu den vergangenen Stunden sehr. 

Denn das schaffen die schlechten Momente, die schlechten Augenblicke und auch die schlechten Tage:
Eine Verhältnismäßigkeit. Ein Einordnen. Der Kontrast erst, da hat der Volksmund schon recht, schält
das Helle aus dem Brei des Alltags. Und der Sonntag macht nicht unbedingt Spaß. Aber er macht den
Unterschied. Zumindest macht er ihn sichtbar, da bin ich mir sicher. Und auf einmal, obwohl es doch
so unmöglich schien, ist der Sonntag vorbei. Man hat überlebt, und mehr als das. Man hat gelebt,
obwohl es sich nicht danach angefühlt hat. Der Sonntag erschöpft, aber er bringt einen weiter.
Gott hatte nicht Recht. Der Sonntag ist die eigentliche Arbeit. Und macht damit den Montag erst möglich.

Sonntage: Feeling blue, und nur selten so fotogen wie hier.



























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